Denn nichts vergeht, ohne dass Neues entsteht …

Den Blick für das Besondere im Alltäglichen muss man schon haben. Wenn ein Hochregallager gebaut wird, dann staunt der Laie über ein schier undurchschaubares Gewirr von Stangen, Pfosten und Verschraubungen. Wenn sich auf einem Lagerplatz unzählige leere Kabeltrommeln stapeln, dann sieht das der Passant und vergisst es im nächsten Moment wieder. Dafür sind Lagerplätze schließlich geschaffen. Und wer einmal eine alte Windmühle oder eine Tischlerei besichtigt, wird sich an der alten Technik begeistern, sieht Räderwerke und Treibriemen, die Mühlsteine oder Sägen in Bewegung bringen und ertappt sich bei nostalgischen Erinnerungen an Kindheitserlebnisse, an die gute alte Zeit, als Handwerk noch ein Zusammenspiel von Muskel- und Maschinenkraft war.

 

Zum vollständigen Text von Peter Groth

Man kann solche Baustellen, Lagerplätze und Werkstätten aber auch wie Karl Schmeichel betrachten. Er schaut auf Muster und Reihungen, auf räumliche Strukturen und die Formschönheit von Rädern, Pumpen, Rohren und der mit Schrauben und Muttern besetzten Flansche, also auf verbindende Bauteile. Ob Holz, Eisen, Stahl oder Beton – das Material spielt für Schmeichel keine Rolle. Es muss nur eine Ästhetik haben.

Das Objekt wird fotografiert, wird aus unterschiedlichen Perspektiven aufgenommen. Diese Fotos dienen Schmeichel dann als Vorlagen für seine Zeichnungen, die in seinem Werk eine besondere Rolle einnehmen, die aber nicht sein einziges künstlerisches Ausdrucksmittel sind. Es geht ihm in seiner grafischen Arbeit nicht um die exakte Umsetzung einer Fotografie in eine Zeichnung – ihn interessiert das technische Objekt, seine Form, seine Oberfläche, Licht und Schatten, die Struktur.

Wie zum Beispiel bei den Zeichnungen, deren fotografische Vorlagen ein im Bau befindliches Hochregallager noch ohne die Außenhaut waren. Karl Schmeichel zeichnet mit dem Bleistift exakt bis ins Detail die Struktur der Gestänge, achtet auf Durchblicke in diesem vermeintlichen stählernen Gewirr und erreicht so eine bemerkenswerte Tiefenwirkung. Das Auge kann sich in diesen Blättern verirren, folgt den Linien und erahnt die spätere Funktion nur.

Es muss allerdings nicht immer so ein Riesenobjekt sein, das den Zeichner reizt. Zufällig hat er auf dem Lagerplatz eines Tiefbauunternehmens mehrere leere mannshohe Kabeltrommeln entdeckt, die dort in Reih und Glied standen. Immer die gleiche Größe und Form, immer der gleiche Typ – das hat Schmeichel fasziniert. Er ließ sich von seiner Entdeckung zu einer Bleistiftzeichnung anregen, in der er die aufgereihten Trommeln exakt abbildet. Auf dem fertigen Blatt werden die Trommeln mit ihren charakteristischen Rundungen und den roh gezimmerten Brettern enorm verdichtet, bilden ein scheinbar kaum zu entwirrendes großes Knäuel – und sind doch nur die Reihung eines immer gleichen Objekts auf einer Ebene.

Karl Schmeichel kann es aber auch noch kleiner und noch detaillierter, wenn er in Industrieunternehmen und handwerklichen Werkstätten einzelne Räderwerke, Treibriemen, Bolzen, Schrauben und Pumpen als Vorlagen für seine Zeichnungen findet. Auch hier sind es Linien, Schattierungen und Strukturen in den kleinen Objekten, die ihn animieren. Und wenn er dann eine ehemalige Stellmacherei oder Schmiede besichtigt, dann ist es auch die Vergänglichkeit des Handwerks, die ihn zur realistischen Darstellung einzelner Werkzeuge anregt.

Die Lust des Zeichners an der Wiedergabe technischer Strukturen und Geräte ist kein Zufall – Karl Schmeichel hat eine handwerkliche Ausbildung als Maschinenschlosser absolviert und in diesem Beruf später an der Konstruktion von Maschinen für die pharmazeutische Industrie mitgewirkt, bei denen auf den Zehntelmillimeter genau gearbeitet werden musste. Nach einer weiteren schulischen Ausbildung und einem mehrjährigen Abstecher in den Möbelbau absolvierte Schmeichel in Kassel ein Studium an der Staatlichen Werkakademie für Gestaltung, das er 1994 abschloss.

Schon 1992 nahm er seine freie künstlerische Tätigkeit auf, in der er sich mitnichten nur auf das Zeichnen beschränkte. Es entstanden unter seiner Hand Skulpturen aus Holz und Beton, er baute Möbel, die wie Zwitter zwischen Gebrauchsgegenstand und Kunstobjekt wirken, und er versuchte sich in der Technik der Federzeichnung, die für ihn einen Schritt hin zu einer freieren Interpretation des Zeichnens bedeutet. Es sind so mit der Feder Landschaftsdarstellungen entstanden, die wiederum von den künstlerischen Elementen der Linie und der nun amorphen Strukturen leben, farblich aber ganz zurückhaltend bleiben. Die Silhouette eines Waldrandes mit ihren hohen, geraden Baumstämmen, eine Halde von geernteten Zuckerrüben oder einfach nur die Struktur eines noch nicht bestellten Ackers sind Motive, die Karl Schmeichel auf neue künstlerische Pfade führen. Handwerklich sind auch diese Blätter von höchster Akkuratesse und geprägt von der Sicherheit im Umgang mit Komposition und Bildaufbau.

Ein Zufallsfund hat Karl Schmeichel in ein weiteres künstlerisches Genre geführt, in die Bearbeitung von Rostobjekten. Durch jahrelange Lagerung hatten die von ihm entdeckten dünnen Metallplatten Rost in unterschiedlichen farblichen Schattierungen angesetzt und die Bleche teils auch schon zerfallen lassen. Das „alternde“ Eisen mit seinen eingefressenen Löchern und unregelmäßigen Rändern, mit den teils noch vorhandenen originalen Farbtönen und den für den Zerfallsprozess so typischen Rost-Tönen säuberte Schmeichel, bestreute es mit Sand und verteilte darauf Pflanzenfarben und Eitempera. So gestaltete er die farbliche Anmutung neu, unterstrich durch die Verwendung des Minerals Sand die schrundige, haptische Oberfläche der fast mannshohen Objekte und schuf Materialbilder von großem optischen Reiz. Gestoppt wird durch die künstlerische Behandlung der Zerfallsprozess nicht, allenfalls durch den Einsatz von Sand und Farbe beeinflusst. Die Selbstauflösung schreitet auf jeden Fall voran. Dagegen hat Karl Schmeichel nichts. Wie sagt er so schön: Denn nichts vergeht, ohne das Neues entsteht …

Der Künstler arbeitet dran, man muss nur den besonderen Blick für das Besondere im Alltäglichen haben.

Peter Groth

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